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6.1 Heilungswundergeschichte/Normenwunder: Mk 2,1-12

Zur Analyse / Zur Auslegung: Der Streit um die Sündenvergebung / Zur Auslegung: Die Heilungswundergeschichte

Zur Analyse

Die Geschichte von der Heilung des Gelähmten weist einige Auffälligkeiten und Spannungen auf.

  • Der Zuspruch der Sündenvergebung erfolgt etwas unmotiviert, da zuvor nichts von dem Sündersein des Gelähmten gesagt wurde und der Zusammenhang von Krankheit und Schuld nicht fraglos vorausgesetzt werden kann (er spielt auch sonst in den Wundergeschichten der synoptischen Evangelien keine Rolle).
  • Die Schriftgelehrten stoßen sich in Gedanken an etwas, das Jesus in dieser Form gar nicht gesagt hatte. Sie erkennen den Anspruch Jesu, selbst Sünden zu vergeben. Dieser Anspruch wird eigentlich erst in V.10 erkennbar: der Menschensohn hat Vollmacht, Sünden nachzulassen. Der Zuspruch in V.5 ist passivisch formuliert und weist damit eher darauf hin, dass Jesus dem Gelähmten die Vergebung durch Gott zusagt. Die Formulierung des Vorwurfs passt also nicht ganz und nimmt schon den später erhobenen Anspruch vorweg.
  • Zwischen V.10 und V.11 zeigt sich eine literarische Naht, da die wörtliche Rede abbricht – genau an der Stelle, an der die Geschichte vom Streitgespräch zur Wunderhandlung zurückkehrt. Dass eine bestehende Geschichte wahrscheinlich erweitert wurde, wird durch eine weitere Beobachtung bestätigt:
  • Die Reaktion der Zeugen berücksichtigt den Widerspruch der Schriftgelehrten nicht mehr: »alle gerieten außer sich und lobten Gott« (V.12). Dies ist ein üblicher Abschluss, der in der Formulierung nicht erkennen lässt, dass zuvor die Autorität Jesu in Frage stand. Das Problem besteht also in dem unkommentierten Bezug auf alle Anwesenden. Dass auch die Schriftgelehrten überzeugt wurden, wäre eigener Erwähnung wert gewesen, vor allem im Kontext der markinischen Streitgespräche. In diesem Rahmen wird ja ein sich stetig steigernder Konflikt erzählt, der auf den Todesbeschluss in Mk 3,6 zuläuft. Dass die Gegner Jesu durch die Wunderheilung überzeugt wurden, scheint deshalb ausgeschlossen.nach oben

Wahrscheinlich handelt es sich bei Mk 2,1–12 also um eine uneinheitliche Erzählung. Eine Wundergeschichte wurde nachträglich um ein Streitgespräch um die Vollmacht zur Sündenvergebung erweitert.

An welcher Stelle der Einschub beginnt, lässt sich nicht eindeutig entscheiden. Gehört der Zuspruch der Sündenvergebung zur ursprünglichen Wundergeschichte oder ist er erst mit dem Streit um die Vollmacht der Sündenvergebung eingefügt worden?

  • Im zweiten Fall würde sich die literarische Naht in V.10 gut erklären lassen: Die Formulierung »sagt er dem Gelähmten« greift genau die Stelle auf, an der in V.5 die wörtliche Rede eingeleitet wurde (»sagt er dem Gelähmten«). Wenn dann in V.11 das Heilwort folgt (»ich sage dir: steh auf, nimm deine Matratze und geh in dein Haus«), könnte dies die ursprüngliche Fortsetzung der Redeeinleitung in V.5 sein. Außerdem wäre die Schwierigkeit beseitigt, dass – untypisch für die synoptischen Heilungswundergeschichten – ein Zusammenhang von Krankheit und Sünde hergestellt und auch noch als selbstverständlich nahegelegt wäre.
  • Wenn der Zuspruch der Sündenvergebung von Anfang an in der Heilungswundergeschichte stand, ließe sich dagegen gut erklären, dass gerade diese Geschichte um das Thema der Vollmacht zur Sündenvergebung erweitert wurde. Außerdem wäre erklärlich, dass eine gewisse Spannung zwischen dem Zuspruch in V.5 und dem Anstoß der Schriftgelehrten besteht.

    Die Zusage in V.5 ist im Präsens und passivisch formuliert: »Deine Sünden werden vergeben.« Jesus beansprucht, wie festgestellt, nicht, selbst Sünden vergeben zu können, wohl aber, deuten und zusagen zu können, was sich gegenwärtig nach dem Willen Gottes vollzieht: die Annahme der Sünder durch Gott. So schlägt sich hier die Vergebungsbotschaft Jesu nieder: Jesus spricht Sündern die Vergebung Gottes zu. Die Spannung, dass die Schriftgelehrten den Anspruch Jesu, Sünden vergeben zu können, erkennen, wäre der sekundären Erweiterung zuzuschreiben: Diese musste angesichts der angezielten Aussage den Anstoß der Schriftgelehrten christologisch zugespitzt formulieren.
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Zur Auslegung: Der Streit um die Sündenvergebung

Unabhängig davon, wie man sich im Blick auf den Beginn des Einschubs entscheidet, dreht sich der Streit mit den Schriftgelehrten um diese zuletzt genannte christologische Frage: Kommt es Jesus zu, Sünden zu vergeben oder ist dies ein Angriff auf die Majestät Gottes?

Nicht das Urteil der Schriftgelehrten, Jesus habe die Vollmacht zur Sündenvergebung beansprucht, wird durch die Erzählung als falsch zurückgewiesen, sondern die Folgerung, dass dadurch Gott gelästert werde. Gezeigt werden soll, dass Jesus die Vollmacht tatsächlich hat: Wenn Jesus den Gelähmten heilen kann, dann steht ihm auch zu, »Sünden nachzulassen auf der Erde« (VV.10f).

Im Hintergrund der Erweiterung dürfte die urchristliche Verkündigung stehen. Sie erhebt tatsächlich den Anspruch, im Namen Jesu Sündenvergebung zuzusprechen. Die Rede vom Menschensohn ist hier angesichts der kontextuellen Einbindung sicher titular zu verstehen. Der Begriff bezeichnet also nicht einen einzelnen Menschen (so könnte »Sohn eines Menschen« in hebräischer Sprachtradition verstanden werden), ist auch nicht verhüllende Redeweise für »ich«. Es geht um einen Hoheitstitel, der in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht werden kann: gegenwärtiges Wirken Jesu, Leiden und künftiges Erscheinen als Richter und Retter. Im MkEv begegnet er an dieser Stelle zum ersten Mal und richtet sich auf das gegenwärtige Wirken (so auch in 2,28).
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Zur Auslegung: Die Heilungswundergeschichte

Löst man die Szene mit den Schriftgelehrten aus der Geschichte, bleibt eine typische Heilungswundergeschichte übrig:

  • Einleitung: VV.1-3 mit M1, M2, M3, M5 (Auftritt des Wundertäters, des Hilfsbedürftigen, einer Volksmenge und von Begleitern des Hilfsbedürftigen – zu M1, M2 etc. s. Tabelle).
  • Exposition: V.4 mit M12, M15 und M16 (Erschwernis, Bitten [hier durch die Aktion], Vertrauensäußerung [nicht durch Hilfsbedürftigen oder Begleiter, aber aufgrund der Kommentierung in V.5: »da Jesus ihren Glauben sah …«]).
  • Zentrum: VV.5a.[b].11-12a mit M32 und M36 (wunderwirkendes Wort, Konstatierung des Wunders [»und er stand sogleich auf«]).
  • Schluss: V.12b.c mit M39 und M43 (Demonstration [»nahm seine Matratze und ging vor allen hinaus«] und Chorschluss).

Diese Geschichte hat ihre besondere Prägung durch die anschauliche Szene am Beginn mit dem Erschwernismotiv und der Überwindung des Hindernisses, die als Glaube im Sinn des Vertrauens in die Macht des Wundertäters zu verstehen ist. Sollte der Zuspruch der Sündenvergebung zur Geschichte gehört haben, so bleibt er ohne jeden Kommentar – eine gewisse Schwierigkeit für die Annahme, dass dieser Zuspruch ursprünglich in der Heilungswundergeschichte stand (s.o.). Die typische Aktion des Wundertäters ist die Zusage der Heilung, wie sie in V.11 formuliert ist.

Der werbende Charakter der Erzählung wird im Chorschluss deutlich. Er zeigt, dass auch die ursprüngliche Fassung christologisch ausgerichtet ist. Der diskutierte Einschub macht also nicht aus einem schlichten Bericht eine Glaubensgeschichte; er verändert aber den Aspekt, unter dem Jesus wahrgenommen werden soll: Es geht nicht nur unbestimmt um die Größe des Wundertäters (»so etwas haben wir noch nie gesehen«), sondern darum, dass sich darin die (von Gott verliehene) Vollmacht zur Sündenvergebung erweist.

Die Geschichte in der überlieferten Gestalt kann man deshalb als Normenwunder einordnen: Das Wunder begründet die Norm, dass es Jesus zukommt, Sünden zu vergeben (und denen, die sich zu ihm bekennen, in seinem Namen Sündenvergebung zuzusprechen).

Für Markus ist diese Geschichte der Auftakt zu einer Reihe von Streitgesprächen mit Schriftgelehrten und Pharisäern, die auf den Todesbeschluss in 3,6 hinführt. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass er in alle, die in den staunenden Chorschluss ausbrechen, die Schriftgelehrten eingeschlossen sehen will. Dies stünde im Kontext ganz isoliert da, in dem es Markus darum geht, einen sich steigernden Konflikt auf den Todesbeschluss zulaufen zu lassen.

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