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6.2 Totenerweckung: Lk 7,11-17

Zur Analyse / Zur Auslegung / Historische Beurteilung

 

Zur Analyse

Die Geschichte von der Auferweckung des Jünglings von Nain gehört zum Sondergut des LkEv. Wahrscheinlich hat er dieses Stück nicht einfach unverändert übernommen, sondern auch in seinem Sinne bearbeitet. Die Herauslösung dieses lukanischen Anteils an der Geschichte gestaltet sich allerdings sehr schwierig und ist kaum mit sicheren Ergebnissen durchzuführen.

Die Wundertat Jesu wird erzählt vor dem Hintergrund von 1Kön 17, der Erweckung des Sohnes der Witwe von Sarepta durch Elija. Dafür sprechen folgende Beobachtungen am Text:

  • Nach 1 Kön 17,9f ging Elija hinein nach ... (vgl. Lk 7,11),
  • das Stadttor ist als der Ort erwähnt (vgl. Lk 7,12),
  • an dem Elija auf eine Witwe trifft (vgl. Lk 7,12);
  • das Zusammentreffen ist eingeleitet mit "und siehe" (1Kön 17,10; Lk 7,12).
  • Im weiteren Verlauf der Geschichte wird Elija den einzigen Sohn dieser Frau vom Tod erwecken (vgl. Lk 7,12ff).
  • Die Formulierung "und er gab ihn seiner Mutter" (Lk 7,15) verdankt sich vor allem 1Kön 17,23. Sie ruft die Vorstellung wach, dass der Erweckte getragen wird. Dies passt zu 1Kön 17, aber nicht zu Lk 7,11-17 (der erweckte Sohn ist ein erwachsener Mann [»Jüngling«]).nach oben

Außerdem erinnert die Erzählung in einigen Zügen auch an eine hellenistische Wundergeschichte, die von der Erweckung einer toten Braut durch Apollonius von Tyana handelt (Philostrat, Vita Apollonii IV 45). Vergleichbar ist vor allem die Inszenierung der Geschichte:

  • Der Wundertäter ist unterwegs und trifft auf einen Leichenzug.
  • Der Leichenzug wird angehalten, so dass
  • das Wunder in aller Öffentlichkeit geschieht.
  • Auch der besonders beklagenswerte Todesfall verbindet beide Geschichten: Es geht um einen jungen Menschen, dessen Tod von einem anderen als besonders schmerzlich empfunden wird.nach oben

Die Geschichte gehört zur Gattung der Totenerweckungen. Gattungsmäßige Besonderheit ist das Fehlen einer Bitte um das Eingreifen des Wundertäters, Jesus handelt hier aus spontan empfundenem Mitleid mit der Mutter des Toten. Im Einzelnen lässt sich folgende Struktur der Geschichte aufzeigen:

  • Einleitung:
    Situationsangabe: der Wundertäter trifft auf den Leichenzug (VV.11-12b) – M1-M4 (M5 nachgeschoben in V.12d, dient hier der Charakterisierung der Not; – zu M1, M2 etc s. Tabelle)
  • Exposition:
    Charakterisierung der Not (V.12cd) – M11 (M5; s.o.)
    Verhalten des Wundertäters: Mitleid und Zuspruch, Initiative zur Wundertat (VV.13-14b) – M25, M28
  • Zentrum:
    Wunderhandlung durch wunderwirkendes Wort (V.14c) – M32
    Feststellung des Wunders (V.15a) – M37 (»der Tote setzte sich auf«)
  • Schluss:
    Demonstration des Wunders (V.15bc) – M39
    Reaktion der Zeugen: Akklamation (V.16) – M43
    Ausbreitungsnotiz (V.17) – M45
    nach oben

Zur Auslegung

Die Schilderung der Ausgangssituation betont zum einen die Not der Frau: Sie verliert mit ihrem einzigen Sohn auch ihren Ernährer und hat somit nicht nur den Schmerz über den menschlich harten Verlust zu tragen, sondern sieht auch wirtschaftlicher Verelendung entgegen. Zum andern wird, in innerem Zusammenhang mit der Ausgangssituation, als Motiv des Handelns Jesu das Mitleid betont.

Das Berühren des Sargs dient der Vorbereitung des Wunders (der Leichenzug kommt zum Stehen), gehört nicht zur Wunderhandlung selbst. Das Wunder selbst geschieht allein durch das machtvolle Wort Jesu, das feierlich gestaltet ist. Die Konzentration auf das Wort hebt die Tat Jesu von den Totenerweckungen Elijas und Elischas ab, die durch die Anrufung Jahwes und das Sichausstrecken über dem toten Kind geschehen (1Kön 17,21f; 2Kön 4,33-35).

  • Die Überbietung der Propheten wird auch durch den größeren zeitlichen Abstand zwischen Sterben und Auferweckung dargestellt: Der Jüngling von Nain wird schon zur Beerdigung getragen, in den atl Erzählungen liegt der Tote noch im Haus.
  • Auch zu der von Apollonius von Tyana erzählten Totenerweckung ist der Unterschied in der Beschreibung der Wunderhandlung festzuhalten: Dort geschieht die Erweckung durch Berührung und geheime Worte. Jesus erweckt den Jüngling dagegen durch einen einzigen vernehmlichen Befehl. Auch wird, anders als im Fall des Apollonios, ein Scheintod ausgeschlossen (»Ein Toter wurde herausgetragen«, V.12; »der Tote setzte sich auf«, V.15).nach oben

Die Wirkung des Wortes Jesu wird festgestellt (»der Tote setzte sich auf«) und zusätzlich demonstriert (»er begann zu reden«). Jesus hat also allein durch sein machtvolles, vernehmbares Wort den Toten erweckt, nicht durch Anrufung Gottes, nicht durch Berührung, nicht durch geheime Formeln. Vor dem Hintergrund der atl Erzählungen von Elija und Elischa ist besonders das Fehlen der Anrufung Gottes zu betonen. Was die Propheten von Gott erbeten haben, tut Jesus aus eigener Vollmacht.

Näherhin zeigt sich: Jesus überbietet nicht nur die Propheten Elija und Elischa, sondern handelt in der Macht Gottes. Nach atl Vorstellung ist die Macht über Leben und Tod Gott vorbehalten (vgl. 2Kön 5,7; 1Sam 2,6; Dtn 32,39).

So erkennen denn auch die Zeugen des Geschehens, dass im Wirken Jesu Gott zu seinem Volk kommt (V.16). Was Jesus vollbringt, weist auf die Anwesenheit Gottes, auf seine Macht. Da die Zeugen die Tat Jesu grundsätzlich zutreffend deuten, muss die Bezeichnung Jesu als eines »großen Propheten« nicht als ungenügende Charakterisierung verstanden werden, auch wenn in der Geschichte der Hoheitstitel »Herr« (Kyrios) gebraucht wird (V.13). In einer besonderen Begebenheit zeigt sich, was der Lobgesang des Zacharias zum Erscheinen des Messias gesagt hat (1,68f).nach oben

Historische Beurteilung

Die dargestellten Erzählzüge sind literarisch-theologischer Gestaltung zuzuschreiben (können also nicht im Sinne von Beweisen für die Jesus zukommende Würde verstanden werden). Für die Annahme, die Geschichte von der Erweckung des Jünglings von Nain gehe zurück auf ein bestimmtes Ereignis im Wirken Jesu, lassen sich keine Gründe wahrscheinlich machen. Die Erzählung ist zwar keine direkte Nachbildung atl Geschichten, aber doch deutlich vor dem Hintergrund von 1Kön 17 mit überbietender Tendenz formuliert; sie könnte auch heidnisch-hellenistische Tradition kennen und überbieten wollen, wenn hier auch keine traditionsgeschichtliche Abhängigkeit festgemacht werden kann. Auch die werbende Ausrichtung des Schlusses verweist auf das Christusbekenntnis der nachösterlichen Gemeinde als dem »Grund« der Erzählung.

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