Bibelstudium
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4.3 Wer sind die »Armen«?

Biblische Perspektive auf die »Armen« / Folgerungen für die Seligpreisungen Jesu

 

In der obigen Darstellung wurde die Rede von den Armen nicht weiter befragt, sondern von unserem heutigen Verständnis ausgegangen. In biblischer Tradition ist der Begriff »Armer« allerdings etwas anders konnotiert als in unserer Alltagssprache, anders auch als in der Literatur aus der griechisch-römischen Umwelt. Dort bezeichnet »arm« primär einen sozio-ökonomischen Status. Arm (πτωχός/ptochos) ist derjenige, der sich kaum das Notwendige für den Lebensunterhalt verschaffen kann, der an der Grenze des Existenzminimums lebt.

Biblische Perspektive auf die »Armen«

In der hebräischen Bibel tragen die beiden Lexeme für »arm« (ani, anaw) einen Doppelsinn. Es geht nicht nur um wirtschaftliche Armut; »Armut« gewinnt auch einen religiösen Sinn. Um dies zu verstehen, ist ein Blick auf das Selbstverständnis Israels in der biblischen Tradition zu werfen.

Weil JHWH das Land Kanaan dem ganzen Volk gegeben hat, sollte es Armut in Israel eigentlich gar nicht geben; sie widerspricht dem Willen Gottes, der allen Lebensrecht gewährt hat. Deshalb werden die Armen nicht nur als Mittellose gesehen, sondern vor allem als Machtlose, denen das ihnen zustehende Recht entzogen wird. Gott steht auf der Seite dieser Armen und tritt für ihr Recht ein – ein wiederkehrendes Thema prophetischer Kritik (z.B. Am 2,6f; 4,1-3; 5,7.10-12; Mi 2,1-11; 3,1-12).

Diesem Eintreten Gottes für die Armen, greifbar auch in Schutzbestimmungen für Witwen und Waisen, entspricht, dass die Armen ihr Vertrauen auf Gott setzen. Sie wissen sich abhängig von Gott, suchen bei ihm Schutz, unterstellen sich ihm in Demut (vgl. z.B. Ps 37,14-17, wo der Gegensatz von arm und reich durchaus noch eine Rolle spielt; Ingo Broer).

Von dieser Bedeutung von Armut konnte sich die Rede von den »Armen« ausweiten und grundsätzliche religiöse Konnotation gewinnen. Die Qumran-Gruppe, die für sich in Anspruch nimmt, der rechten Tora-Auslegung zu folgen, verwendet »Arme« als Selbstbezeichnung. In diesem Fall dürfte die sozio-ökonomische Dimension des Begriffs keine Rolle mehr spielen.

nach obenFolgerungen für die Seligpreisungen Jesu

Was bedeutet dieser Durchgang für das Verständnis der Seligpreisungen? Die Begriffsgeschichte schließt keineswegs aus, bei den »Armen« an wirtschaftlich Arme zu denken. Der genaue Gehalt des Begriffs erschließt sich nach dem jeweiligen geschichtlichen und literarischen Kontext. Beides spricht nicht dafür, das ökonomische Moment aus den Seligpreisungen herauszuhalten: Zu den Adressaten Jesu in Galiläa gehörten wirtschaftlich Arme; Landverlust und Verschuldung waren ein Kennzeichen jener Epoche. Und der literarische Zusammenhang ruft mit dem Bezug auf die Hungernden das genannte Moment ebenfalls wach.

Andererseits muss man den Sinn der Seligpreisungen nicht auf diese Dimension beschränken. Jesus sprach mit seiner Basileia-Botschaft nicht nur wirtschaftlich Arme an. Die Zöllner etwa gehörten nicht zu dieser Schicht; in Lk 8,3 sind Frauen erwähnt, die Jesus mit ihrem Vermögen unterstützten, offensichtlich also nicht alles verkauften und den Armen gaben, um dann Jesus mittellos nachzufolgen.

Sie könnten sich in den »Armen« in dem gezeichneten religiösen Sinn entdecken, indem sie ihr Vertrauen ganz auf den von Jesus verkündeten Gott setzten. Und die Makarismenreihe als ganze bestätigt auch das weitere Verständnis: Der Bezug auf Trauernde (oder Weinende) ist nicht auf wirtschaftliche Armut zu beschränken. Dass den Armen das Reich Gottes (und nicht die Umkehrung des jetzigen Zustandes) zugesprochen wird, passt sich in dieses weite Verständnis des Begriffs ein.

Der atl-jüdische Hintergrund des Armenbegriffs kann bestätigen, was zum Verständnis der Seligpreisungen bereits festgehalten wurde: Es geht nicht um einfache Vertröstung, die vom gegenwärtigen Elend ablenken und die Armen »ruhig stellen« soll. Hinter dem Begriff »Armer« steht die Vorstellung, dass Gott für das Recht der Machtlosen eintritt. Dass Jesus daraus keine konkreten Konsequenzen für soziale Reformen gezogen hat, hängt vor allem mit seiner endzeitlichen Perspektive zusammen (s.a. 4.4); es berechtigt aber nicht zu dem Urteil, die Seligpreisungen würden die Not verharmlosen und möglichen Protest auf ein Jenseits verweisen.

Ebenfalls ausgeschlossen ist ein Verständnis der Seligpreisungen als Einweisung in eine »gebückte Frömmigkeit«, die in Demut sich bis zur Selbstaufgabe zurücknimmt, um alles von Gott zu erwarten. »Arme« sind diejenigen, denen durch die herrschenden Verhältnisse das Recht entzogen wurde und denen nichts anderes bleibt als auf Gott zu hoffen. Diesen wird Rettung durch Gott zugesagt. Daraus ist kein Frömmigkeitsideal abzuleiten, das ungerechte Strukturen stabilisiert (Rudolf Hoppe). Gegen solche Konsequenzen spricht im Übrigen auch der Charakter des Zuspruchs, der die Seligpreisungen Jesu prägt (s.o. 4.2).

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