Bibelstudium
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3.4 Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit des Gottesreiches

Gegenwärtigkeit / Zukünftigkeit / Die Spannung von »schon und noch noch nicht«

Die Verkündigung Jesu von der Basileia ist in zeitlicher Hinsicht von einer Spannung gekennzeichnet. Man kann weder die Dimension der Gegenwart noch die der Zukunft eliminieren und für unjesuanisch erklären. In einem Zweig heutiger Jesusforschung werden allein die Aussagen zur Gegenwärtigkeit der Gottesherrschaft für authentisch gehalten – kaum zu Recht (s.u.).

Gegenwärtigkeit

Der Gedanke, dass die Basileia schon gegenwärtig ist, begegnet in verschiedenen Zusammenhängen. Am häufigsten wird auf Lk 11,20par verwiesen.

»Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen«.

Gottes Reich wird nicht für die Zukunft verheißen, die Gegenwart ist vielmehr durch dieses Reich schon bestimmt. Zeichen dafür sind die Dämonenaustreibungen, die Jesus vollbringt. In ihnen wirkt sich die Entmachtung Satans aus, er muss seine Beute, die von bösen Geistern besetzten Menschen, herausrücken (der Zusammenhang des Kampfes gegen die Macht des Bösen auch in Mk 3,27parr; s.a. Lk 10,18).

Weitere Belege für die Vorstellung von der Gegenwärtigkeit der Basileia:

  • die Seligpreisung der Augen- und Ohrenzeugen des Wirkens Jesu in Lk 10,23fpar. Zwar fällt hier der Begriff der Gottesherrschaft nicht, doch ergibt er sich sachlich aus dem Zusammenhang (»was viele Propheten und Gerechte [Mt; Lk: Könige] zu sehen wünschten«);
  • der »Stürmerspruch« (Mt 11,12fpar), auch wenn er im Detail äußerst schwierig zu deuten ist.
  • die so genannten »Wachstumsgleichnisse«. Sie stellen ein Geschehen dar, in dem aus dem geschehenen Anfang ein bestimmtes Ergebnis folgt. Als Gleichnisse vom Gottesreich heben sie darauf ab, dass der Anfang bereits gesetzt ist – in der Gegenwart (s.a. »Jesu Vergebungsbotschaft«, Punkt 5).
  • der Spruch Lk 17,21, wie auch immer das »mitten unter euch« (bzw. die zugrunde liegende griechische Wendung) zu verstehen ist: »inwendig in euch«, räumlich: »unter, bei euch«? »in eurem Erfahrungsbereich«?)

Dass Gegenwartsaussagen wesentlich zum Profil der Gottesreichbotschaft Jesu gehören, ist in der heutigen Jesusforschung kaum strittig. Dagegen dürfte zur Zeit Jesu genau dieser Gedanke zum Widerspruch herausgefordert haben. Verglichen mit der Traditionsgeschichte des Begriffs der Königsherrschaft Gottes ist dies ein neuer Gedanke. Denn Jesus sagt, die erwartete endzeitliche Gottesherrschaft sei schon gegenwärtig. Die Wirklichkeit Israels widersprach dieser Ansage offenkundig, so dass sich von hier Anfragen an die Botschaft Jesu ergaben (s. »Wachstumsgleichnisse«).

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Zukünftigkeit

Auch der Gedanke der Zukünftigkeit der Basileia wird durch verschiedene Aussagen belegt.

  • Im »Vater Unser« richtet sich eine Bitte auf das Kommen des Reiches (Lk 11,2par). Dann muss dieses Reich auch eine zukünftige Dimension haben, es ist in der Gegenwart nicht voll angekommen.
  • Die Seligpreisungen der Hungernden und Weinenden bieten im Nachsatz eine futurische Aussage: »sie werden gesättigt/getröstet werden« (Lk 6,21). Nur im Blick auf diese Zukunft, die Jesus den Armen zuspricht, ist die Seligpreisung derer möglich, die in der Gegenwart eigentlich nichts zu lachen haben.
  • In einem Spruch, der die Erwartung der endzeitlichen Völkerwallfahrt zum Zion aufgreift (Lk 13,28fpar) und auf die Basileia-Verkündigung anwendet, zeigt sich deutlich die künftige Dimension der Gottesherrschaft; es wird ein Geschehen beschrieben, das die Gegenwart noch nicht bestimmt.
  • Der »eschatologische Ausblick« (Mk 14,25parr) bezeugt ebenfalls eine zukünftige Dimension der Basileia. Die Gegenwart ist bestimmt durch den drohenden Tod, Jesus blickt in die Zukunft. In ihr wird er im Reich Gottes das wiederaufnehmen können, was jetzt durch seinen baldigen Tod abgebrochen wird.

Nicht ins Wirken Jesu zurückzuführen sind die so genannten Terminworte (Mk 13,30; Mt 10,23; Mk 9,1). Zwar muss man für Jesus von Naherwartung ausgehen. Die Nähe ist aber so drängend, dass selbst eine Berechnung des Termins nicht in Frage kommt. Die Terminworte sind zwar auch auf eine baldige Zukunft ausgerichtet, sie rechnen aber »ausdrücklich mit einem begrenzten Zeitraum bis zum Kommen der Gottesherrschaft« (H. MERKLEIN) und scheinen schon Probleme mit der Naherwartung zu spiegeln.

Man findet in der Jesustradition keine genaueren Vorstellungen über die Gestalt der vollendeten Gottesherrschaft. Von der Traditionsgeschichte des Begriffs (s.o. 2.3) her ist es ausgeschlossen, an ein jenseitiges Reich zu denken, in das die Frommen nach ihrem Tod gelangen. Zwar gibt es durchaus transzendente Vorstellungen, doch bleiben sie verbunden mit dem Gedanken der Vollendung der Geschichte, dem Ende »dieses Äons«. Von welchen Vorstellungen Jesus geleitet war, lässt die Überlieferung nicht mehr erkennen. Relativ häufig begegnet das Bild vom endzeitlichen Mahl, darüber hinaus gibt es keine nennenswerten Charakterisierungen des Lebens in der vollendeten Herrschaft Gottes.

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Die Spannung von »schon und noch noch nicht«

Aus dem Gesagten ergibt sich: Die Herrschaft Gottes ist unter zeitlichem Gesichtspunkt von einem spannungsreichen Verhältnis bestimmt, das man bezeichnen kann als die Spannung zwischen »schon und noch nicht«. Die Basileia ist schon angebrochen, aber sie ist noch nicht vollendet. Die besondere Herausforderung Jesu an seine Adressaten bestand darin, trotz der immer noch notvollen Gegenwart an den Anbruch des Gottesreiches zu glauben. Doch kann man deshalb das Moment des Künftigen nicht aus seiner Botschaft ausklammern.

In der zeitlichen Spannung zwischen »schon und noch nicht« kann man eine weitere Spannung ansiedeln, die die Jesus-Tradition kennzeichnet.

  • Einerseits finden wir Sprüche, in denen Jesus als Weisheitslehrer erscheint: Aufruf zur Sorglosigkeit (Mt 6,25-34par), Warnung vor den Gefahren des Reichtums (z.B. Mk 10,23-27), Weisung zur rechten Frömmigkeit (Mt 6,1-17), zur Frage der Scheidung (Mk 10,2-9parr), zu Reinheit und Unreinheit (Mk 7), Rede in weisheitlichen Erfahrungssätzen (Mk 2,21f; Mk 2,17).
  • Andererseits die apokalyptisch geprägte Tradition: Entmachtung Satans, Vollendung der Gottesherrschaft in der Zukunft, Gericht.

Ausgehend von den beiden zeitlichen Dimensionen können auch die weisheitlichen und »apokalyptischen« Elemente zusammengebracht werden. In seiner Weisheitslehre geht Jesus auf das Leben unter den Bedingungen der angebrochenen Gottesherrschaft ein. Da es aber auch zur Zukunft der Basileia etwas zu sagen gibt, bleiben auch die »apokalyptischen« Elemente von Bedeutung. Damit ist eine Rekonstruktion zurückgewiesen, die in Jesus einen »uneschatologischen« Weisheitslehrer erkennt.

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