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5.2 Feindesliebe (Mt 5,44f; Lk 6,27f.35)

Rekonstruktion / Einordnung in die Gottesreichbotschaft / Überforderung? / Nächstenliebe und Feindesliebe

Rekonstruktion

Da das Gebot der Feindesliebe bei Lk ohne antithetische Form bezeugt ist, gilt diese bei Mt als sekundär. Aus dem Vergleich der Spruchreihen bei Mt und Lk sind folgende vier Elemente als ursprünglicher Bestandteil zu rekonstruieren:

  • die Aufforderung, die Feinde zu lieben;
  • die Aufforderung zum Gebet für Verfolger oder Schmähende;
  • die Zielrichtung des Handelns: Gotteskindschaft;
  • die Begründung im Handeln Gottes, das den Unterschied zwischen Bösen und Guten nicht berücksichtigt.

In diesen Punkten stimmen die Versionen des Mt und Lk, bei allen Differenzen in der Formulierung, inhaltlich überein. Ohne eingehende Diskussion ist also von folgendem Bestand des Jesuswortes auszugehen:

»Liebt eure Feinde, betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters werdet. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.«

Auch dieser Spruch bedenkt nicht die angezielten Folgen im Blick auf den Feind. Deshalb trifft das Stichwort von der »Entfeindungsliebe« den Wortlaut nicht. Die Folgen des Handelns interessieren nur für diejenigen, die ihre Feinde lieben: Sie erlangen dadurch die Gotteskindschaft.

Begründet wird dies mit Blick auf das Handeln Gottes. Gott unterscheidet in der Fürsorge für seine Geschöpfe nicht zwischen Bösen und Guten. In der Entsprechung zu diesem Verhalten werden die Täter der Feindesliebe Gotteskinder sein.nach oben

Einordnung in die Gottesreichbotschaft

Der Horizont des endzeitlichen Gottesreiches wird im Spruch nicht aktiviert. Dennoch dürfte er für Jesus entscheidend sein, wenn er von der unterschiedslosen Güte Gottes für alle spricht. Der Grundgedanke deckt sich ja mit der Gottesherrschaft, wie sie Jesus verkündet: Gott hat die Unterscheidung zwischen Sündern und Frommen aufgegeben und nimmt jetzt alle in Israel gleichermaßen an. Wenn wir demselben Gedanken jetzt in einer »schöpfungstheologischen« Aussage begegnen, dann ist ein Zusammenhang wahrscheinlich.

Dies gilt auch deshalb, weil die Verhältnisse in der Schöpfung auch ganz anders gedeutet werden können. So entnimmt ihr Sir 13,15-19, dass jeder nur seinesgleichen liebt; und die Gleichbehandlung der Geschöpfe durch Gott kann geradezu als Argument gegen eine gerechte Weltordnung erscheinen (Koh 9,2f; vgl. J. Becker). Der Blick auf das Walten des Schöpfers ist also durch eine bestimmte Perspektive geprägt: nämlich diejenige, die durch die Einsicht in das jetzt begonnene endzeitliche Handeln Gottes vorgegeben ist.

Der Spruch lässt sich nicht eingrenzen auf Feindschaft innerhalb des Gottesvolkes. Heiden gehörten auch zur Lebenswirklichkeit in Palästina, und der für »Feind« verwendete Begriff lässt keinerlei Einschränkung in der Bedeutungsweite zu.nach oben

Überforderung?

Ist das Gebot der Feindesliebe lebbar? Dies hängt wohl ab von der Erfahrung der zuvorkommenden Liebe Gottes. Ist sie so tragfähig, dass auch die Zumutung der Feindesliebe angenommen und verwirklicht werden kann? Von Lk 6,30-35par her klärt sich wenigstens ein Aspekt: Es geht in der Feindesliebe nicht um eine emotionale Haltung des »Gernhabens«, sondern um ein bestimmtes Tun zugunsten von Feinden.

Nächstenliebe und Feindesliebe

Man kann das Gebot der Feindesliebe als Zuspitzung des Gebotes der Nächstenliebe verstehen. Ob das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,28-34parr) auf Jesus zurückgeführt werden kann, ist strittig. Die Gestaltung der Perikope bei Mk mit der Betonung der Einzigkeit Gottes scheint eher auf den Hintergrund des Diasporajudentums zu deuten; auch die Zusammenstellung der Beziehung zu Gott mit der zu den Menschen ist im hellenistischen Judentum belegt (Philo, TestXII). Aber man kann die Bedingungen in Palästina im Blick auf hellenistischen Einfluss nicht prinzipiell absetzen von denen in der Dia­spora.

Inhaltlich lässt sich das Doppelgebot gut mit der Botschaft Jesu in Verbindung bringen. Die Verpflichtung auf die Verehrung des einen Gottes passt zu seiner Verkündigung der Basileia, in der er dazu aufruft, das endzeitliche Handeln Gottes anzunehmen. Dass dies nicht möglich ist ohne die Annahme des Nächsten, entspricht der Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe im Doppelgebot. In der Entschränkung des Begriffes des Nächsten liegt der besondere Akzent Jesu.

 

  • Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter erweist sich ein Fremder als Nächster – hier auch die bedeutsame Verschiebung zum »aktiven Nächster-Sein«: Wer hat sich als Nächster erwiesen? Nicht: Wen kann oder muss ich als Nächsten sehen?
  • Im Aufruf zur Feindesliebe wird die Nächstenliebe noch weiter entschränkt.

»Sollte das doppelte Liebesgebot also sekundär sein, wurde es Jesus doch mit sachlichem Recht zugeschrieben« (Gerd Theissen/Annette Merz).

Weiter zum Anhang: »Ausgewählte Problemfelder«


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