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1.2 Rekonstruktion der ursprünglichen Fassung

Umfang / Wortlaut

Umfang

Nach der Zwei-Quellen-Theorie* haben Mt und Lk die Seligpreisungen der Logienquelle Q entnommen. Stammen die zusätzlichen Seligpreisungen bei Mt aus einer Sondertradition bzw. von Mt selbst oder hat Lk die Version von Q gekürzt? Dieselbe Frage stellt sich umgekehrt für die Weherufe. Schließlich ist (über den Vergleich zwischen Mt und Lk hinaus) zu untersuchen, ob die kurze Makarismenreihe in Lk 6,20-23 einheitlich ist.

Es lassen sich keine Gründe anführen, warum Lk eine eventuell längere Fassung der Seligpreisungen gekürzt haben sollte. Entweder stammen die Makarismen 3 und 5-8 von Mt oder aus der vormt Tradition. Dies muss an dieser Stelle nicht entschieden werden. Eine Rekonstruktion der Q-Vorlage muss bei der kürzeren Version des Lk ansetzen.

Während das gerade vorgestellte Urteil kaum strittig ist, wird die Überlieferung der Weherufe kontrovers diskutiert. Manche Autoren meinen, dass Mt die Weherufe in Q gelesen, aber ausgelassen hat. Die vorgetragenen Argumente sind bedenkenswert, aber kaum zwingend, um eine Kenntnis und Auslassung der Weherufe durch Mt zu beweisen. Mehrheitlich wird davon ausgegangen, dass die Weherufe nicht ursprünglich zu den Seligpreisungen gehören.

In der Reihung der Seligpreisungen in Lk 6,20-23 fällt die vierte aus dem Rahmen, und zwar in dreierlei Hinsicht:

  • Im Blick auf den Umfang ist festzustellen, dass sie wesentlich ausführlicher ist, sich nicht beschränkt auf eine knappe Seligpreisung mit der folgenden Begründung.
  • Inhaltlich ergibt sich ein Unterschied in der Adressierung des Makarismus. Es werden diejenigen selig gepriesen, die aufgrund ihres Bekenntnisses verfolgt werden könnten. Die Verheißung bleibt allgemein (»Lohn im Himmel«), ist nicht als Umkehrung der Not vorgestellt.
  • In formaler Hinsicht fällt die ganz andere sprachliche Gestaltung der vierten Seligpreisung auf.

    Die vierte Seligpreisung in Lk 6,22f stellt eine sekundäre Erweiterung dar. Im Gegensatz zu den parallel gestalteten drei ersten Makarismen (s.u. 3.) legt sich in diesem Fall auch eine Rückführung ins Wirken Jesu nicht nahe. Zu sehr scheint sich hier schon die Situation der nachösterlichen Verkündigung zu spiegeln: die Erfahrung von Ablehnung »um des Menschensohnes/um meinetwillen«, also aufgrund des Bekenntnisses zu Jesus.

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Wortlaut

Relativ eindeutig lassen sich mt oder vormt Zusätze erkennen.

  • Dass die Armen im Geist selig gepriesen werden, mindert die Parallelität mit den beiden folgenden Makarismen, ist also wahrscheinlich nicht ursprünglich.
  • Das Argument setzt allerdings voraus, dass die Seligpreisung der Hungernden ebenfalls in der lk Form ursprünglich ist. Das ist freilich gut begründet. Denn »Gerechtigkeit« als Objekt des Hungers (und des Durstes) in Mt 5,6 ist recht sicher als Eintrag erkenntlich. Dieser Begriff ist typisch für das MtEv (sieben Belege; je ein Mal in LkEv und JohEv). Die Annahme, das Interesse an der »Gerechtigkeit« habe zum Eintrag in die Seligpreisung geführt, liegt wesentlich näher, da ein Motiv für die Erweiterung angegeben werden kann. Damit ist auch die Erwähnung des Dürstens als sekundär erwiesen.

Vergleicht man den Wortlaut inhaltlich paralleler Makarismen,

  • so lässt sich eindeutig die Formulierung »Reich der Himmel« als matthäisch erkennen, da diese nur im MtEv, und dort ganz überwiegend, begegnet.
  • Was die Differenzen in der zweiten (wie auch der vierten) Seligpreisung betrifft, so sind sie äußerst schwierig zu beurteilen. Der grundsätzliche Sinn wird von diesen Unterschieden nicht berührt. Möglicherweise ist Mt in 5,4 näher am Ursprung als Lk.
  • Am stärksten wird über die Frage der Adressierung diskutiert. Ist die durchgängige Formulierung in der 3. Person bei Mt ursprünglich oder der Wechsel von 3. und 2. Person bei Lk? Beide Positionen werden vertreten, keine lässt sich ausschließen; doch sprechen insgesamt die besseren Argumente wohl eher für die erste Annahme.

  1. Die lk Form macht insofern keinen ursprünglichen Eindruck, als sie eine Spannung zwischen dem »Selig« und der Begründung aufweist: nur der Nachsatz ist als Ansprache von Adressaten gestaltet. Dies könnte im Zuge der Anfügung der vierten Seligpreisung geschehen sein, die konsequent in der 2. Person Plural formuliert ist. Da dieser vierte Makarismus in der Kennzeichnung der Seligpreisung ganz anders gebaut ist (s.o.), hat das »selig seid ihr, wenn ...« nicht auf das »selig die Armen ...« usw. eingewirkt.
  2. Geht man vom Aramäischen aus, wäre bei einer Formulierung in der 2. Person Plural zu erwarten, dass im Griechischen ein entsprechendes Personalpronomen stünde (»ihr«). Die tatsächlich belegte Wendung spricht eher dafür, dass sich im Aramäischen die 3. Person Plural fand.
  3. Da Lk in seinem Werk eine gewisse Vorliebe für die Anrede-Form bezeugt, könnte er auch selbst (unter Einfluss der 4. Seligpreisung) für die Umformulierung in die 2. Person verantwortlich sein. Warum hat er aber dann die Makarismen nicht durchgängig in die zweite Person gesetzt? Der Grund dafür könnte in der literarischen Rahmung liegen. Jesus blickt auf die Jünger und spricht die Seligpreisungen. Wenn es dann heißt »selig die Armen«, bleibt eine gewisse Distanz zu den Adressaten auf der literarischen Ebene, die ja nicht als Hungernde und Weinende gezeichnet werden.
  4. Angesichts der Traditionsgeschichte (s.u. ?.?) kann man die Formulierung in der 3. Person als den Normalfall bezeichnen. Allerdings ist dadurch die 2. Person nicht ausgeschlossen; auch sie ist belegt.

    Worin liegt die Bedeutung des diskutierten Unterschieds? Der Charakter der Seligpreisung als eines Zuspruchs wird deutlicher akzentuiert, wenn sie als Anrede formuliert ist. Dagegen sehen nicht wenige Autoren in den Makarismen in der 3. Person eher den Charakter einer Aufforderung zu einem Handeln, dem die Seligpreisung gilt. Es handelt sich aber höchstens um Akzente, nicht um Momente, die sich gegenseitig ausschlössen. Auch bei der Formulierung in der 3. Person kann man den Zuspruch-Charakter erkennen (s.u. 4.2).

Als wahrscheinlich älteste erreichbare Form der Seligpreisungen ergibt sich also:
Selig die Armen, denn ihrer ist das Reich Gottes.
Selig die Hungernden, denn sie werden gesättigt werden.
Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.

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