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4.2 Auslegung – Verlorener Sohn

Der jüngere Sohn und der Vater / Der ältere Sohn und der Vater / Pointe auf der Bildebene / Pointe auf der Sachebene / Metaphorische Elemente

Der jüngere Sohn und der Vater

In der Erzählung selbst wird nicht deutlich, dass schon der Fortgang des jüngeren Sohnes einen Fehler darstellt oder eine Schuld begründet. Der Vater teilt ohne weiteren Kommentar das Vermögen auf. Er kritisiert den Sohn nicht für sein Vorhaben. Wenn dieser in seiner Selbstbesinnung sagt, er hätte gesündigt gegen den Vater und den Himmel, so ist dies nicht auf den Weggang zu beziehen, sondern auf die Tatsache, dass er das Vermögen verschleudert hat, »haltlos lebend« (V.13).

Der soziale Abstieg wird zwar durch den Zwang zum Schweinehüten so inszeniert, dass man auch an die Entfernung vom religiösen jüdischen Erbe denken kann. Dennoch steht die materielle Not im Vordergrund: Dem Sohn scheint selbst das Schweinefutter begehrenswert, er bekommt es aber nicht.

  • Dem Willen, diese erbärmliche Lage zu inszenieren, ist wohl auch die Unstimmigkeit zu verdanken, dass für die Arbeit des Schweinehütens doch irgendeine Entlohnung vorgesehen sein müsste. Darum kümmert sich der Erzähler nicht. Er zeigt, dass der Sohn, der von zu Hause fortzog, am Tiefpunkt angekommen ist.

Der Entschluss zur Rückkehr wird nicht in Schuldeinsicht und innerer Umkehr begründet. Der jüngere Sohn geht zwar in sich, als er auf seinem Tiefpunkt angekommen ist; aber er denkt nicht nach über seine Schuld, sondern über seine schlechte Lage und wie er sie verbessern könnte:

»Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen, und ich komme hier vor Hunger um.« (V.17)

Von seiner Sünde spricht er nur im Rahmen des Sprüchleins, das er sich für die Ankunft bei seinem Vater zurechtlegt:

»Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner« (VV.18f).

Nicht Reue führt den jüngeren Sohn zu seinem Vater zurück, sondern allein die Aussicht, dort etwas zu essen zu bekommen.

Der Vater nimmt den Sohn wieder als Sohn an, ehe dieser seinen vorbereiteten Spruch loslassen kann. Er läuft dem Sohn entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn (V.20). Der Sohn kann zwar seinen Satz noch beginnen (V.21), aber das hat keinerlei Bedeutung für den Fortgang der Geschichte. Der Vater hat ihn durch seine Geste schon angenommen und geht mit keiner Silbe auf das ein, was der Sohn ihm sagt. Er unterbricht dessen vorbereiteten Spruch und ordnet die Vorbereitungen zu einem Fest an, mit dem der erste Teil der Erzählung endet (V.24).

► Der Vater nimmt also nicht den reuig zurückkehrenden Sohn wieder auf, sondern den verlorenen, dem er entgegengeht, sobald er die Möglichkeit zur Begegnung hat, und den er annimmt, noch ehe der irgendetwas zu seinem Erscheinen sagen kann.nach oben

Der ältere Sohn und der Vater

Das Fest ruft den Protest des älteren Sohnes hervor, der jetzt erstmals als handelnde Figur auftritt (VV.25-28). Er nimmt Anstoß am gütigen Verhalten des Vaters, das er als ungerecht empfindet. Und dafür kann er gute Argumente ins Feld führen: Er hat immer dem Vater gedient und seinen Willen geachtet – und hat doch nie ein solches Fest bekommen, wie es jetzt für den unnützen Bruder veranstaltet wird.

  • Dass der ältere Bruder um die Geschichte des Jüngeren weiß, muss der Parabelerzähler voraussetzen. Es wird in der Geschichte ja auch nicht behauptet, dass er mit der Charakterisierung seines Bruders falsch läge.

Der Vater hat kein Argument gegen den Vorwurf seines älteren Sohnes, ihm nie ein Fest ausgerichtet zu haben. Er kann ihn nur einladen zur Mitfreude, weil doch der verlorene Bruder wiedergefunden wurde. Während der ältere Sohn immer bei ihm war, hatte er den jüngeren verloren. Dass er nun wieder da ist, machte das Freudenfest unumgänglich.

► Eine Reaktion des Älteren wird nicht erzählt. Dies ist insofern als offener Schluss ernst zu nehmen, als die Reaktion von Seiten der Adressaten der Parabel erfolgen soll. Ob die Rechtfertigung des Vaters den älteren Sohn überzeugt, wird deshalb nicht mitgeteilt, weil diejenigen, auf die hin der ältere Sohn transparent ist, zur positiven Reaktion eingeladen werden.nach oben

Pointe auf der Bildebene

Die Beobachtungen münden in die Formulierung der bildinternen Pointe:

Der Vater verhält sich gegenüber dem Sohn, der ihn verlassen hat und nun zurückgekehrt ist, gütig und ruft dadurch den Protest des älteren Sohnes hervor, der immer bei ihm geblieben ist. Der Vater versucht sein Verhalten zu rechtfertigen durch die außergewöhnliche Situation: der Verlorene ist wiedergefunden, deshalb konnte er nicht anders handeln.

Pointe auf der Sachebene

Das Gleichnis erzählt von einem gütigen Verhalten, das als ungerecht empfunden wird. Den ersten Teil der Erzählung (bis V.24) kann man auf den Grundzug der Verkündigung Jesu beziehen. Das Kommen der Gottesherrschaft bedeutet: Gott nimmt die Sünder als Sünder an, ohne Vorbedingung, so wie der jüngere Sohn vom Vater angenommen wurde, ehe er irgendetwas von Reue und Umkehr sagen konnte. Im Protest des älteren Sohnes wird dem Widerspruch gegen diese Botschaft Jesu Raum gegeben.

Dieser Widerspruch dürfte in erster Linie von den Gesetzesfrommen gekommen sein, wie wir sie in den Evangelien vor allem in den Pharisäern repräsentiert finden. Sie versuchen, dem Willen Gottes zu entsprechen, indem sie ihr Leben an der Tora ausrichten. Das Gesetz des Mose ist ja Offenbarung des Willens Gottes. Sie konnten sich fragen: Was ist das für ein Gott, der nun die Sünder genauso annimmt wie die Gerechten? Ist diese Güte den Sündern gegenüber nicht ungerecht gegenüber denen, die sich um die Erfüllung des Willens Gottes bemühen? Jesu Botschaft von der Annahme der Sünder war nicht ganz so harmlos wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

Jesus versucht mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, dem Einwand der Frommen zu begegnen. Er verweist auf die besondere Situation: Gott hat jetzt, da er seine Herrschaft aufrichtet, das Verlorene wiedergefunden – und dies ist etwas so Großartiges, dass man sich freuen und mitfeiern muss.

Trifft diese Auslegung zu, dann liegt Lukas mit seiner Einleitung der drei Gleichnisse vom Verlorenen auf der Linie der Verkündigung Jesu. Denn dieser Einleitung zufolge hat Jesus das Gleichnis als Antwort auf die Kritik der Pharisäer und Schriftgelehrten an seiner Gemeinschaft mit »Zöllnern und Sün­dern« erzählt (15,1f).nach oben

Metaphorische Elemente

Angesichts der in der jüdischen Gottesrede verankerten Vater-Meta­phorik kann der Vater des Gleichnisses ohne Weiteres auf Gott bezogen werden. Die Aussage des Gleichnisses verschiebt sich dadurch nicht.

Ansonsten scheinen keine stehenden Bilder aufgegriffen zu sein, sondern eher geprägte Erzählmotive, wie jenes vom missratenen, verschwenderischen Sohn (filius luxuriosus).

Abseits der Frage geprägter Bilder kann man fragen, ob die erzählte Welt Hinweise auf die angezielte Sachebene gibt, wenn es heißt,

  • der ältere Sohn habe dem Vater gedient und
  • nie ein Gebot übertreten (V.29).

Hier scheint schon das Verhältnis zum Gebot Gottes im Blick zu sein, und nicht nur die Weisung, die ein Vater seinem Sohn gegeben hat. Auch in der Rede vom Dienen könnte sich anzeigen, dass es in der Geschichte um das Gottesverhältnis geht.

Im Rahmen des LkEv erkennt Michael Wolter in der Konstellation von V.28 eine metaphorische Transparenz. Dass der ältere Sohn nicht hineingehen wollte (V.28), könnte im Rahmen des LkEv an das endzeitlich relevante Hineingehen erinnern (11,52; 13,24; s.a. 14,23). Damit würde die Notiz einen mahnenden Unterton bekommen.

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