Die »verborgenen Jahre«
I. Das Schweigen der Evangelientradition II. Indirekte Hinweise
I. Das Schweigen der Evangelientradition
Über die meiste Zeit des Lebens Jesu wissen wir nichts. Die Evangelien schweigen sich über Kindheit und Jugend sowie insgesamt über die Zeit vor dem öffentlichen Wirken Jesu fast vollständig aus. Einzige Ausnahme ist – neben den bereits erwähnten »Kindheitsgeschichten« – Lk 2,41-52 mit der Erzählung vom 12jährigen Jesus im Tempel, die aber nicht historisch auswertbar ist. Ihr geht es um den Aufweis der Bestimmung Jesu, seiner heilsgeschichtlichen Sendung.
Das Schweigen der kanonischen Evangelien über die Zeit vor Jesu öffentlicher Wirksamkeit ist sicher im Fehlen entsprechender Quellen begründet, und dies bedeutet: Die urchristliche Überlieferung hatte offenbar kein Interesse an der Erhellung dieses Lebensabschnittes Jesu.nach oben
II. Indirekte Hinweise
Die sogenannten »verborgenen Jahre« können nur indirekt erhellt werden, indem man die allgemeinen Bedingungen in den Blick nimmt, unter denen ein galiläischer Jude im 1. Jh. n.Chr. aufgewachsen ist (vgl. zum Folgenden John P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, Bd. I, New York 1991, 253-315. 332-345).
Sprache
Ganz überwiegend wird heute Aramäisch als Muttersprache Jesu angesehen. Literarische Funde und kurze Schriftstücke aus dem Alltagsleben sprechen dafür, dass die Umgangssprache in Palästina Aramäisch war. Eine bescheidene Kenntnis des Griechischen kann angenommen werden, da die Juden nicht nur in Jerusalem von griechischer Sprache und Kultur berührt wurden und etwa für geschäftliche Beziehungen die Beherrschung eines Grundstocks des Griechischen notwendig sein konnte. Dass Jesus auf Griechisch verkündigen konnte, ist nicht anzunehmen.
Lesen und Schreiben
Die Frage, ob Jesus lesen und schreiben konnte, lässt sich nicht direkt aus Erzählungen ableiten, in denen entsprechende Fertigkeiten vorausgesetzt werden. Lk 4,16-30 (Jesus liest aus einer Jesaja-Rolle) verdankt sich dem theologischen Programm des LkEv, eine historische Auswertung ist schwierig. In Joh 8,6 ist nicht gedacht, dass Jesus etwas Bestimmtes in den Sand schreibt. Vielmehr kennzeichnet das Tun Jesu das Desinteresse Jesu im Kontrast zum Eifer der Ankläger.
Nimmt man die allgemeinen Bedingungen der Zeit Jesu und die besonderen Bedingungen seines näheren sozialen Umfeldes in den Blick, so ist zu urteilen: Da es kein organisiertes Schulwesen gab und ein entscheidender Impuls zum Erlernen wenigstens des Lesens die Bindung an die heiligen Schriften war, hing die Bildung von der Frömmigkeit der Familie und der Existenz einer Synagoge am Ort. Dann dürften die Bedingungen zum Erlernen des Lesens für Jesus günstig gewesen sein. Eine solche Fähigkeit erklärt auch, dass Jesus in der Lage war, mit den Schriftgelehrten über die Auslegung der Tora zu diskutieren.
Beruf
Nur in Mk 6,3 findet sich eine Angabe über den Beruf Jesu: tekton. Der Begriff bezeichnete den Handwerker, der ein beständig hartes Material bearbeitete, wie Holz, Stein oder Elfenbein. Man könnte ihn mit »Bauhandwerker« wiedergeben. Dieser Beruf reiht Jesus in einem gewissen Sinn unter die Armen ein – unter jene, die hart arbeiten müssen für ihren Lebensunterhalt. Er setzt ihn aber nicht an das untere Ende der sozialen Leiter.
Familienstand
Ausdrückliche Hinweise auf den Familienstand Jesu enthält die neutestamentliche Tradition nicht. Ein Schweigen ist immer schwierig zu interpretieren. Es wird einerseits gedeutet vor dem Hintergrund, es habe im Judentum die Verpflichtung zur Ehe gegeben. Wenn nichts gesagt werde zum Familienstand, dann deshalb, weil Jesus der Norm entsprochen habe, also verheiratet gewesen sei.
Aber: Man kann das Schweigen auch einordnen in die recht ausführlichen Angaben zur Familie Jesu: Brüder, Schwester, Vater, Mutter werden erwähnt. Wenn nichts verlautet zu einer Frau, dann deshalb, weil Jesus unverheiratet war. Man kann auch fragen, ob die Norm wirklich so unumstößlich war, dass man ein Schweigen zum Familienstand sicher von ihr her deuten kann. Zu den Essenern überliefern jüdische Autoren, es habe einen ehelosen Zweig gegeben – ohne dass sie ein Erstaunen über eine so »unjüdische« Lebensweise ausdrücken.
Der Sinn der Ehelosgikeit kann vielleicht als »Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen« aus Mt 19,12 erschlossen werden. Deutlich gemacht ist dieser Zusammenhang dort allerdings nicht.nach oben