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Der Hebräerbrief

I. Verfasserfrage   II. Adressaten   III. Ort und Zeit der Abfassung   IV. Anlass und Zweck  V. Gattung und Struktur   VI. Theologisches Profil

I. Verfasserfrage

Der Hebräerbrief weist nur am Schluss Formmerkmale eines Briefes auf. Da nach antikem Briefformular der Absender im Präskript am Beginn genannt wird, bleibt die Schrift anonym. Weil der als Brief gestaltete Schluss Berührungen mit Paulusbriefen aufweist (einschließlich der Nennung des Paulusbegleiters Timotheus: 13,23), wurde der Hebr traditionell dem Paulus zugeschrieben. Die älteste Handschrift (P46) ordnet ihn an zweiter Stelle nach dem Römerbrief ein. Allerdings war dies bereits in der Alten Kirche nicht unumstritten. Tatsächlich sind die sprachlichen wie inhaltlichen Differenzen so groß, dass der Brief nicht von Paulus stammen kann. Der Autor bleibt unbekannt; alle Versuche, ihn zu identifizieren (z.B. Barnabas, Apollos, Priska), sind Spekulation.nach oben

II. Adressaten

Ausdrücklich genannt werden die Adressaten im Hebr nicht, da ja kein Präskript exsitiert. Am Textende wurde in den Handschriften hinzugefügt: »an Hebräer«. Aus dem Hebr lässt sich dies nicht direkt ableiten. Möglicherweise erklärt sich diese nachträgliche Adressierung aus einem Rückschlussverfahren im Rahmen der Zuschreibug an Paulus: Inhaltliche Eigenheiten weisen auf einen alttestamentlich-jüdischen Kontext, zumal da der kennzeichnende Begriff für »Heiden« (ἔθνη/ethne) nicht fällt; Paulus selbst konnte seine Herkunft aus Israel durchaus betonen (Phil 3,5: »Hebräer von Hebräern«; s.a. 2Kor 11,22). Dann, so der Rückschluss, wird sich dieser Brief nicht an Heiden gerichtet haben, sondern eben an »(Mit-)Hebräer« (Martin Karrer).

Historisch lässt sich aus dieser sekundären Angabe nichts gewinnen. Die Bestimmung der Adressaten des Hebr ist in der Forschung umstritten. Für judenchristliche Charakterisierung wird die Argumentationsweise vorgebracht, die auf seiten der Adressaten eine intime Kenntnis der heiligen Schriften Israels erfordere und bisweilen eine innerjüdische Perspektive verrate. Dagegen legt sich eine Adressierung an Heidenchristen nahe, wenn man die Anklänge an die Paulusbriefe in 13,22-25 und die Formulierung in 6,1 bedenkt: Der Verfasser setzt auf Seiten der Adressaten voraus, dass sie »von toten Werken« umgekehrt sind hin zum »Glauben an Gott«. So kann er kaum von Juden sprechen, die nicht erst bei Annahme des Christusbekenntnisses zum Glauben an den einen Gott gekommen sind. Da das Interesse an einer schriftgestützten Argumentation nicht auf judenchristliche Kreise begrenzt werden kann, ist die Annahme einer zumindest überwiegend heidenchristlichen Adressatenschaft zu bevorzugen.nach oben

III. Ort und Zeit der Abfassung

Als Indiz für den Abfassungsort kann man den Hinweis in 13,24 auswerten (»es grüßen euch die Brüder aus Italien«). Bestärken lässt sich diese Lokalisierung durch manche Verwandtschaft zwischen dem Hebr und dem in Rom entstandenen 1. Clemensbrief. Die Einordnung des Hebr hinter den Röm in P46 (s.o. I.) könnte als Indiz dafür gelten, dass um 200 die Adressatenschaft des Hebr in Rom vermutet wurde. Allerdings wird auch vorgeschlagen, die Adressaten seien an einem anderen als dem Abfassungsort zu suchen – wegen der Anklänge an das Briefschluss-Formular des Paulus in dessen »Gemeindegebiet zwischen Kleinasien und Griechenland« (Martin Karrer).

Die Spanne in der Datierung ist recht groß und reicht von 60 bis zur Zeit um die Jahrhundertwende. Die Parallelen zum 1.Clemensbrief weisen eher an den Endpunkt des genannten Zeitraums. Für die Frühdatierung wird vorgebracht, dass der Hebr von einem bestehenden Kult ausgehe (8,4; 9,8; 13,11); also könne der Tempel in Jerusalem noch nicht zerstört sein, weshalb das Schreiben vor dem Jahr 70 anzusetzen sei. Allerdings ist für den Hebr die in der Schrift niedergelegte Kultordnung entscheidend. Ein zwingendes Argument für die Frühdatierung ergibt sich deshalb nicht.nach oben

IV. Anlass und Zweck

Der Hebr richtet sich an Adressaten, die im Glauben ermüdet sind. In 13,22 bezeichnet der Verfasser sein Werk als »Wort der Ermutigung« (λόγος τῆς παρακλήσεως/logos tes parakleseos). Bestärkend will er wirken angesichts einer Situation, in der die Glaubenden durch ihre Existenz als Minderheit in der (stadt-)römischen Gesellschaft angefochten sind. »Die Christen, die der Brief vor Augen hat, sind eine erschöpfte Minderheit – schon zu ernüchtert, um Christsein als Gewinn zu erleben, noch zu entschlusslos, es fallen zu lassen« (Knut Backhaus).

Das Ziel, die Glaubenszuversicht wieder aufzurichten, will der Autor vor allem dadurch erreichen, dass er den Adressaten eine obere Himmelswelt vor Augen malt, zu der sie dank ihrer Zugehörigkeit zu Christus Zugang haben.nach oben

V. Gattung und Struktur

Der Hebr endet wie ein Brief, lässt aber Briefformalia am Beginn vermissen (s.o. I.). Die starke rhetorische Gestaltung weist auf den Charakter einer mündlich vorgetragenen Rede. Die brieftypischen Merkmale am Schluss könnten dann darauf verweisen, dass es sich beim Hebr um eine brieflich versandte Rede handelt – gedacht zur Verlesung im Gottesdienst, also um eine Predigt. Die antike Rhetorik unterscheidet drei Genera: Gerichtsrede, Lobrede und Beratungsrede. Am stärksten ist der Hebr durch Elemente der dritten Redegattung geprägt, die die Hörer von der Richtigkeit einer Handlungsoption überzeugen will.

Zur Struktur des Hebr werden drei- und fünfgliedrige Schemata vorgeschlagen. Bei einer Dreiteilung kann man die entscheidenden Einschnitte in 4,14-16 und 10,19-25 erkennen. An beiden Stellen wird Christus als der Hohepriester präsentiert, der den Zugang zur himmlischen Welt eröffnet hat – eine Inklusion, die den dazwischenstehenden Text als zusammengehörenden Teil ausweist: der zweite Hauptteil, der in einem kultischen Symbolsystem die Heilsbedeutung Christi entfaltet. Davor bietet der Hebr eine theologische Fundierung, indem er vom Sprechen Gottes und dem Hören der Glaubenden handelt (1,1-4,13). Im dritten Hauptteil geht es um die angemessene Reaktion auf die durch Christus eröffnete Erlösung: das Festhalten am Glauben (10,19-12,29; Struktur nach Knut Backhaus).nach oben

VI. Theologisches Profil

Das theologische Profil des Hebr lässt sich anhand der drei Hauptteile entfalten (s.o. V.).

Wort-Gottes-Theologie

Basis ist eine Theologie des Wortes Gottes. Gott offenbart sich als menschenzugewandter Gott: Als sprechender Gott hat er sich erwiesen und erweist er sich – auch seinem Sohn gegenüber, den er anspricht (5,5f; 7,17-22) und der ihm antwortet (5,7-10; 10,5-9). Ebenso werden die Glaubenden vom sprechenden Gott erreicht; sie sind aufgefordert, auf dessen Wort zu hören und mit standhaftem Glauben zu reagieren (2,1-4; 12,25-29). Dem geschilderten Grundzug entsprechend spielt Schriftauslegung im Hebr eine besonders herausgehobene Rolle: Das Wort Gottes ist in der Schrift zugänglich. Dass diese im Hebr primär als Wort wahrgenommen wird, spiegelt sich in einer auffallenden Fehlanzeige: Schriftzitate werden nicht mit Formeln eingeleitet, die das Geschriebensein ausdrücken (»wie geschrieben steht«, »die Schrift«).

Christologie

Das Sprechen Gottes kulminiert endzeitlich in Christus (1,1f). Durch ihn ist die Kluft zwischen Himmel und Erde überbrückt. Denn er gehört einerseits ganz auf die Seite Gottes, ist Sohn von Ewigkeit her, der Präexistente (1,5-13). Andererseits wird aber auch die Menschlichkeit Christi besonders betont, seine Niedrigkeit und Schwachheit (2,17f; 4,15; 5,7), freilich bezogen auf das Menschsein an sich, nicht auf die konkrete Lebensgeschichte des Jesus von Nazaret. »Das Humanum als solches ist entscheidend; die konkrete Biographie würde den Blick nur vom Wesentlichen ablenken« (Knut Backhaus).

Entfaltet wird die Bedeutung Christi vor allem in kultischen Kategorien: Christus ist der himmlisch-ewige Hohepriester. Ps 110,4 – »du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks« – bot dafür einen Anhaltspunkt in der Schrift. Damit wird die schriftgestützte frühe Christologie fortgeschrieben, für die Ps 110,1 eine wichtige Rolle gespielt hat. Der Hebr stellt die kultische Ordnung des aaronidisch-levitischen Priestertums dem ewigen Hohepriestertum Christi gegenüber. Was im Rahmen jener Ordnung stets wiederholt werden muss, um einen Zugang zum Heiligen zu erhalten, ist durch das Opfer Christi am Kreuz ein für alle Mal geschehen. So ist den Glaubenden bleibend der Zugang zur himmlischen Welt eröffnet: »Mit einem Opfer hat er die, die geheiligt werden, für immer vollkommen gemacht« (10,14).

Glaube

Die himmlische Welt, das Heiligtum, in das der Hohepriester Christus eintritt, ist der sinnlichen Wahrnehmung entzogen. Entsprechend betont Hebr 11,1 am Glauben das Moment des Erhofften und nicht Gesehenen. Dies soll die Adressaten darin bestärken, hinter die irdisch-sichtbare Wirklichkeit zu schauen und jenes Heilsdrama wahrzunehmen, das er in kultischen Kategorien entfaltet hat. Da der ewige Hohepriester den Weg gebahnt hat in das himmlische Heiligtum, so »lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in voller Gewissheit des Glaubens« (10,22). Eine solche Antwort bedeutet: Festhalten am Bekenntnis und ein Handeln, das auf den Bestand der Glaubensgemeinschaft zielt (10,23-25). Die Mahnung zur Ausdauer verweist zum einen auf bereits überstandene Bedrängnisse (10,32-34), gewinnt zum andern aber gerade vor dem Hintergrund der entfalteten Erlösung eine besondere Motivierung: »Denn Ausharren habt ihr nötig, damit ihr, nachdem ihr den Willen Gottes getan habt, die Verheißung davontragt« (10,36).

Um den Aufruf zu diesem Ausharren zu bestärken, kann der Hebr auch einen harten, drohenden Ton anschlagen – in Passagen, die als grundsätzlicher Ausschluss einer Umkehrmöglichkeit gelesen werden könnten (und auch so gelesen wurden: 6,4-8; 10,26-31). Die Intention der Mahnung (nicht: theologische Grundsatzaussage) ist hier ebenso zu beachten wie die Tatsache, dass die dunklen Abschnitte Hintergrundfolie für die Bestärkung der Heilszuversicht sind (6,9-12; 10,32-39).


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